Niehr, Thomas; Reissen-Kosch, Jana (2018): Volkes Stimme - Hilfreich, aber etwas verschenktes Potenzial

Ein durchaus politisches Buch zu rezensieren bedarf eines nicht allzu geringen Maßes an Feinfühligkeit und Objektivität. Individuelle politische Ansichten beeinflussen sonst möglicherweise die Wahrnehmung, egal ob der vorliegende Text Übereinkünfte oder Ablehnung erzeugt. Aus diesem Grund möchte ich mich ihm zielorientiert annähern. Das heißt, dass ich die vorliegende Einleitung – bzw. Einleitungen, denn das Buch umfasst neben einem Vorwort des ehemaligen Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse, der Exposition der Autoren noch das erste Kapitel, in welchem die Zielstellung benannt wird – auf ihre Absichten untersuche und die Wertigkeit des Buches vom Erreichen der Ziele abhängig mache.
Doch zunächst zu den beiden Autoren: Thomas Niehr ist Professor für Germanistische Sprachwissenschaft an der RWTH Aachen und beschäftigt sich vornehmlich mit Diskurslinguistik und Politolinguistik. Zu beiden Themengebieten veröffentlichte er 2014 – durchaus gelungene – Einführungen.Jana Reissen-Kosch ist wissenschaftliche Mitarbeiterin von Niehr und erforscht Sprache in der Politik, insbesondere die des Rechtsextremismus. Hierzu promovierte sie 2015 – Veröffentlichung 2016 – mit einer linguistischen Analyse rechter und rechtsextremer Online-Kommunikation.

Den Auslöser für die Beschäftigung mit dem Thema und dem Verfassen des Buches sehen die beiden Autoren in den großen Wahlerfolgen populistischer und rechtsextremer Parteien und Personen in der westlichen Welt. Diese Akteure arbeiten mit „einer Sprache, die polarisiert, Sachverhalte verzerrt, Hass und Zwietracht sät“ (8). Aus diesem Grund wollen sie Aufklärung betreiben, da man der „Umdeutung von Falschaussagen zu ‚alternativen Fakten‘ (am besten mit) […] Wissen und Bildung“ entgegentritt (9). Gleichzeitig ist es das Ziel beider, ein Abrutschen der Debatte in eine rechte oder rechtsextreme Richtung zu verhindern und so der Gefährdung der Demokratie zu begegnen (15). Um das zu erreichen, sollen die kommunikativen Mittel von Rechtspopulisten – es gehe um Äußerungen, die als rechtspopulistische eingestuft werden, nicht aber um Personen oder Parteien (14f.) – benannt und beschrieben werden. Hierbei gehe es vor allem um eine Sensibilisierung der Leser und eine Erläuterung, warum diese Art der Kommunikation zu einer Verrohung des gesellschaftlichen Diskurses führt und eine Gefahr „für unser demokratischen Gemeinwesen“ darstellt (23).
Dabei versuchen die Autoren möglichst differenziert vorzugehen. Sie sind sich der Tatsache bewusst, dass das Zitieren von rechtspopulistischen Positionen ihren Urhebern Aufmerksamkeit einbringe, aber notwendig sei, um sich mit deren kommunikativen Strategien auseinandersetzen zu können. Aus meiner Sicht hätte hier noch angeführt werden müssen, dass diese Positionen und Aussagen nicht verschwinden, nur weil sie von einem Teil der Bevölkerung nicht benannt werden. Eine sachliche Beschäftigung, die den Autoren auch nicht immer gelingt – dazu im weiteren Verlauf mehr –, ist notwendig, um ebenjene Ziele zu erreichen, die den Autoren vorschweben. Zudem wollen sie die Position entkräften, dass ebenso Linksextremismus existiere, und den Vorwurf abwehren, dass sie „auf dem linken Auge blind seien“ (22). Hier verschwimmen – ohne angemessene Nachweise – die Grenzen zwischen persönlicher Meinung und Fakten. Dass „vom Rechtspopulismus […] die größte Gefahr für unsere Demokratie“ ausgehe, würde sicherlich jeder AfD-Wähler und sicherlich ebenso einige konservative CSU- respektive FW-Wähler verneinen. Zielführender wäre eine Untermauerung dieser These mithilfe einer Statistik der Kriminalität beider Gruppen gewesen oder aber das schlichte Vernachlässigen dieser These.

Inhaltlich widmet man sich anfangs vor allem bestimmten Begrifflichkeiten wie Volk, Populist/Populismus und Elite, deren fehlende Trennschärfe und nicht zuordenbarer Teilnehmerkreis als Abgrenzungswerkzeug für die Anhänger konstruiert seien, dem inhaltlich bei vertiefter Beschäftigung aber nicht standhalten, und dekonstruiert so den Einsatz von häufig genutzten Termini und Phrasen, wie z. B. „Gesunder Menschenverstand“ (25), „Establishment“ (30)  oder „Gutmensch“ (31). Problematisch ist an dieser Struktur, dass teilweise auf bestimmte Begriffe, teilweise auf kommunikative Praxen (Vorliebe für Hohn und Ironie (26)) und auf inhaltliche Themen (Feindbild Medien (38)) eingegangen wird. Dabei bleibt der Text zwar lesbar, eine klare Struktur lässt sich indes nicht mehr erkennen. 

Im dritten Kapitel erfolgt dann die Beschäftigung mit „Abgrenzungsfantasien“ nach außen, die mithilfe führender Publizisten, die die Autoren dem rechtspopulistischen Spektrum zuordnen, benannt und erklärt werden. Hierbei wird deutlich, dass die meisten als schlichte Feindbilder bzw. „Angstmacher“ konzipiert sind. Gleichzeitig fällt aber hier die politische Meinung der Autoren auf, wenn in Zitate zum besseren Verständnis das Wort „deutschen“ eingespeist wird, um aus „unsere Nachkommen“ „unsere [deutschen] Nachkommen“ zu machen (64). Hier erfolgt eine vorgezogene Deutung der Ausführungen, die wohl wahrscheinlich genau das meinen, aber eben nicht so ausgesprochen wurden. Dies ist nämlich der zentrale Punkt an dem angeführten Zitat der AfD. Sie führen nicht explizit das Deutschsein aus, sondern implementieren es zwischen den Zeilen. So kommt es, dass sich auch die Nachkommen eines türkischen Gastarbeiters im Zweifelsfall damit identifizieren können, wenn vom „Land unserer Väter und Mütter“ gesprochen wird. Dies macht das Wahlprogramm aus meiner Sicht gefährlich: dass sich im Grunde genommen auch die Personen, gegen die die Partei Stimmung machen möchte, noch wiederfinden können. Hier gelingt es den beiden Autoren nicht, den insgesamt durchaus fremdenfeindlichen Gehalt des Gesamtzitats einzufangen und gleichzeitig zu zeigen, worin der doppelte Boden der Aussage besteht.

Im folgenden Kapitel wird auf die simplen Problemlösungen gewisser rechtspopulistischer Akteure eingegangen. Dabei führen die beiden Autoren dankenswerterweise zuerst eine Strategie ein, mithilfe derer „populistische“ Lösungen als solche enttarnt werden können. Die beiden angeführten Beispiele zum Klimawandel und zur Abschiebung krimineller Ausländer sind nachvollziehbar. Bei letzterem wäre allerdings etwas detailliertere Recherche nötig gewesen: Wenngleich die Aussage „So besagt die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), dass niemand in ein Land abgeschoben werden darf, in dem ihm Verfolgung droht“ (71) durchaus nachvollziehbar klingt, ist sie inhaltlich nicht komplett korrekt. Zum einen spricht die GFK von Gebieten, in denen er bedroht wird, und nicht von Ländern. Das ist ein inhaltlich durchaus relevanter Faktor, wenn man bedenkt, dass es Gebiete in bestimmten Ländern gibt, in denen eben keine Gefahr für Leib und Leben droht. Zum anderen ist die Eindeutigkeit dieser Aussage schlicht falsch. In Artikel 33 Abs. 2 der GFK ist klar geregelt, dass selbst dann abgeschoben werden kann, wenn Gefahr droht; nämlich genau in dem Fall, wenn der Flüchtende als Gefahr für die Sicherheit des aufnehmenden Land betrachtet wird oder als Gefahr der Allgemeinheit, „weil er wegen eines Verbrechens oder eines besonders schweren Vergehens rechtskräftig verurteilt wurde“ (GFK 1951: 15f.). 
Insgesamt jedoch – das sei an dieser Stelle angemerkt – sind die inhaltlichen Themen und Ausführungen der beiden Autoren gut recherchiert. 

Es folgen im weiteren Verlauf noch die Beschäftigung mit dem Aufgreifen von „Nazisprech“ (83), der eine Renaissance erfahre. Es werden zentrale, von Rechtspopulisten benutzte Worte wie „Umvolkung“, „Volksverräter“ und „Gleichschaltung“ erläutert. Richtig ertragreich ist aber vor allem das am Ende des Kapitels stehende Unterkapitel „Aufgewärmt oder umdeutet“, in dem besprochen wird, dass die „Übernahme bestimmter Begriffe aus der Zeit des Nationalsozialismus und die gleichzeitige Umdeutung anderer Begriffe dieser Epoche“ zu einer Ambivalenz führe, die es ermögliche, rechte Wähler zu gewinnen und bürgerliche nicht zu verjagen (104). Tatsächlich führt die Benutzung dieser Termini zu einem Schaudern bei Historikern; das gleiche geschieht im Übrigen auch, wenn sich Sportdirektoren wie Hansi Flick oder Horst Heldt „den Stahlhelm aufsetzen“ wollen oder schon verstorbene FDP-Politiker von „spätrömischer Dekadenz“ schwadronieren. Der Unterschied – und das zeigen die Autoren in diesem Kapitel wunderbar – besteht in der bei Rechtspopulisten vorherrschenden Intention, so zu sprechen.

Im sechsten Kapitel gehen die beiden Autoren auf „Neue Kampfbegriffe für Scheinprobleme“ ein und widmen sich zuerst zwei Wortneuschöpfungen und Metaphern aus dem AfD-Wahlkampf. Ihre Dekonstruktion dieser beiden Begrifflichkeiten ist klug, weil sie beispielhaft für die weiteren verwendeten rechtspopulistischen Begriffe stehen („Rapefugees“, „Volksverdünner, etc.). Hierbei möchte ich anmerken, dass das Beispiel „Islam-Schwimmen“ deutlich weniger expliziert wird als die „Scharia-Bank“ (105ff.). Dies liegt nicht zuletzt an dem unglücklich gewählten Beispiel. Die Absurdität des Echauffierens über die muslimische Bank, die deutlich höhere moralische Maßstäbe anlegt, als es die üblichen Banken tun, und im Übrigen völlig legal ist, wird da besonders deutlich. Viel sinnvoller wäre es gewesen, sich ausschließlich auf die muslimische Bank zu beschränken, denn in dieser Gänze lässt sich das beim abgetrennten Schwimmen muslimischer Frauen in einem Schwimmbad nicht nachvollziehen, da die Erklärung dazu ausgespart wird. 
Deutlich gelungener ist der Exkurs zu „Gaulands Entsorgungsfantasie“ und Höckes „Denkmal der Schande“. Hier führen die beiden Autoren – endlich – linguistische Methoden ein, die nachweisen, wie die oben erwähnten Ambivalenzen aufgeschlüsselt werden können (114ff.). Ärgerlich ist allerdings, dass sie dabei das Konzept des Framings, das nur einmal zu Beginn des Buches fast ohne Erklärung fällt, außer Acht lassen. Gerade die Metaphern, die die rechtspopulistischen Worte und Wortneuschöpfungen so ausmachen, festigen fremdenfeindliche, rassistische, antifeministische Denkmuster, ohne dass die Rezipienten dies zwingend wahrnehmen müssen. Es boten sich vielfältige Möglichkeiten, die Konzepte Framing und Narration einzubinden, nicht zuletzt beim „Nazisprech“.

Das siebte Kapitel befasst sich mit Grenzüberschreitungen, die von rechtspopulistischen Akteuren bewusst begangen werden. Sie folgen einer klassischen Strategie: Jede Publicity ist gute Publicity. Als Beispiel führen die Autoren z. B. Alice Weidels Entgleisungen ggü. Deniz Yücel, Poggenburgs Aschermittwochrede oder den Tweet des ehemaligen Dresdner Staatsanwaltes Jens Maier zum Sohn Boris Beckers an. Es wird offenbar, dass diese teils beleidigenden, teils bewusst falschen und teils rassistischen Äußererungen ein Katalysator für Aufmerksamkeit in Deutschland und den Medien sind. Dazu passt das Einführen des linguistischen Konzepts der „trialogischen“ Kommunikation (Ebd.: 128) bzw. der Trialogizität (Dieckmann 1981), welche davon ausgeht, dass Sprecher in den Bundestagsdebatten, die im Plenum geführt werden, stets wissen, dass ihre Äußerungen nichts bzw. kaum etwas an den politischen Entscheidungen ändern, die in den einzelnen Ausschüssen getroffen werden, aber durch die Öffentlichkeit in den Medien und im Gespräch rezipiert werden. Kritisch ist hierbei, dieses Muster nur der AfD anzulasten. Im Grunde genommen arbeitet so jede Partei, die nicht in der Regierung sitzt, und selbst die Regierungsparteien versuchen so ihre Entscheidungen ggü. der Öffentlichkeit zu begründen (128). Ebenso fragwürdig ist, dass die Autoren Sarrazin vorwerfen, er habe die aus dem Diskurs in den Feuilletons entstandene Aufmerksamkeit bewusst genutzt, weil die Autoren sein Buch nicht gelesen haben. Nur liegt das Lesen eines Buches und das Berichten darüber nicht in der Hand des Autors. Erneut muss gefragt werden, was dieses Beispiel soll (129). Auch die vielfältigen Instrumentalisierungen schrecklicher Ereignisse passen in das Schema der Aufmerksamkeitsbeschaffung um jeden Preis und werden von den Autoren ausgiebig beleuchtet.

Im letzten inhaltlichen Kapitel beschäftigen sich die Autoren mit Verschwörungstheorien, die sich ihrer Ansicht nach auf dem Vormarsch befinden. Als Beispiel führen sie die weithin bekannten „Bilderberg-Treffen“ an. Hierbei dekonstruieren sie die Vorgehensweise der Verschwörungstheoretiker sehr treffend. Zum einen seien diese selbst nie Verschwörungstheoretiker, sondern zutreffender die, die die „Wahrheit“ erkannt haben. Dabei stützen sie sich auf die Argumentationsstrategie des post hoc ergo propter hoc (143). Diese wird schlüssig erläutert. Hierbei sei erwähnt, dass sie ihre theoretischen Grundlagen aus der ebenso 2018 veröffentlichten Monographie von Butter (2018) entnehmen.

Wie bei den Autoren folgt auch bei mir eine Schlussfrage, die als Fazit dienen soll. Während die Niehr und Reissen-Kosch fragen, wie der Leser mit Rechtspopulismus und dessen Sprache umgehen solle, möchte ich fragen, welche Ziele wollen die Autoren mit dem Buch erreichen und schaffen sie das? 
Das Buch richtet sich an eine große Leserschaft, die nicht zwingend mit linguistischen Forschungsansätzen und den Grundzügen rechtspopulistischer Sprache vertraut sind. Genau diese Leser sollen informiert, vor allem aber sensibilisiert werden. Trotz oben genannter Kritikpunkte stellt das Buch für Leser, die sich noch nicht mit der Thematik beschäftigt haben, eine angemessene und leicht verständliche Einführung dar. Für Leser, die ihre Beschäftigung intensivieren möchten, ist das Buch mehr eine Art Nachschlagewerk, als dass es neue Horizonte offenbart. Die angegebene Literatur indes ist für solche Leser hilfreich. Kritisch zu hinterfragen ist, wie integrativ das Buch für Menschen ist, die sich mit den Positionen der Rechtspopulisten eher unkritisch oder lobend auseinandersetzen. Ein Verschwörungstheoretiker oder ein KOPP-Verlag-Leser wird sich nicht durch dieses Buch von seinen Gedanken abbringen lassen, was völlig vermessen wäre. Aus meiner Sicht bedient das Buch eine Klientel, die sich sowieso schon gegen Rechtspopulismus stellt, was – zugegeben – auch Ziel des Buches war. Wie notwendig es indes war, das Buch zu schreiben, kann dennoch kritisch hinterfragt werden.

Rezension erschienen am 05.12.2018 am Amazon

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