Patria, oder "Die Buddenbrooks" auf Baskisch?

Patria, oder "Die Buddenbrooks" auf Baskisch?

Fernando Aramburus Buch "Patria" war ein sogenannter Blindkauf. Interessanter Titel, eine Rahmenhandlung, die nach kurzem Lesen auf dem Schutzumschlag zu überzeugen wusste, aber vor allem die Empfehlung von Mario Vargas Llosa (Autor von „Das Fest des Ziegenbocks“ und „Das böse Mädchen“; Literaturnobelpreisträger), den ich unendlich schätze und dessen Einschätzung mir in einem kleinen Buchladen in Rostock das Gefühl gab, dieses Werk könnte mich durch den Ostsee-Urlaub begleiten.

Die Geschichte ist grundsätzlich sehr knapp zusammenzufassen: Im Spanien nach der Franco-Diktatur erhebt sich die ETA, um für die Schaffung eines baskischen Nationalstaates - nicht nur mit Worten - zu kämpfen. Das Buch verfolgt dabei die Wege und die Handlungen von zwei Familien und ihren Matriarchinnen. Der Konflikt, der sich zwischen Nachbarn und in diesem Falle sogar Freunden entspinnt, die durch Einschüchterung und Mord voneinander getrennt werden, wird die Leben aller Familienangehöriger die nächsten knapp dreißig Jahre beschäftigen. 

Warum würde ich das Buch nun empfehlen? Im Grunde ist nach einhundert Seiten klar, um was es geht und wie die Handelnden sich verhalten. Ich fragte mich unweigerlich, wie er jetzt die nächsten 600 Seiten füllen wolle, ohne dass er den Lesenden langweilt. Es gibt im Buch drei Fixpunkte: 

  1. Die Ermordung des Familienvaters

  1. Die Zeit davor, also was geschah, bevor er zur Zielscheibe der ETA wurde, der Terror der ETA und die Ausgrenzung der Dorfgemeinschaft der Familie

  1. Die Zeit danach, also wie leben die Protagonisten weiter nach der Tat; diese Zeit reicht bis zur Gegenwart, also der Auflösung der ETA

Hier geht Aramburu einen Weg, den ich gerne mathematisch beschreiben möchte:
Die drei Fixpunkte möchte ich mit -1, 0 und 1 beschreiben. Stellen Sie sich diese Punkte auf einem Koordinatensystem vor. Noch mehr Punkte kommen nicht dazu, all das wissen wir nach hundert Seiten. Aber jetzt macht er sich die rationalen Zahlen zu nutze. Er fügt die 0,9 ein, die -0,1, -0,01, 0,004, usw., usf.
Die einzelnen der unzähligen Einzelkapitel sind wie kleine Mosaiksteinchen, die allein betrachtet vielleicht interessant sind, aber am Ende ergibt sich so ein Bild, das einem Panorama gleicht, das ich in dieser Form sehr selten gesehen habe. Vor allem aber haucht er seinen Figuren so Leben ein. Keine wirkt wie ein Abziehbild, sie scheinen lebensecht und nie plakativ. Es ist eine Wohltat, dass er sich so viel Zeit für die Einführung und die Ausgestaltung seiner Figuren nimmt.

Hierbei macht er sich eine besondere - wie mir bei anderen Rezensenten auffiel, teilweise störende - Schreibart zu nutze. Er springt in den Kapiteln erzählperspektivisch hin und her, aus dem personalen wird ein Ich-Erzähler und andersherum. Das kann anstrengend sein, ich fand es erfrischend und nie störend. Es erleichtert den Zugang zu den Figuren noch einmal, ich hörte sie in meiner Phantasie, in meinem persönlichen Kinofilm sprechen und agieren.

Das wichtigste und warum mir das Buch so am Herzen liegt und sich mit einem Schlag direkt in meine Top 5 des Buchjahres 2018 katapultierte, war der Umgang mit der Problematik an sich:

Selten war ein Autor so feinfühlig, so subtil, so „zwischen-den-Zeilen“. Das Mosaikhafte, das ich eingangs schon ansprach, sorgt für eine stete und notwendige Entfremdung, nur so ist es möglich, so viele Figuren einzuführen und sie spürbar zu machen. Es ist für die meisten Deutschen und wohl auch für die meisten Spanier schwer nachzufühlen, wie die Beteiligten empfunden, warum sie wie gehandelt haben. Aber Aramburu schafft es, indem er so vielteilig und mannigfaltig auf die verschiedensten Charaktere und deren Handlungen eingeht, dass der Schmerz, die Ausgrenzung, die Ideologie nachvollzogen werden können. Seine Figuren werden nicht innerhalb eines halben Jahres wieder glücklich, viele werden es niemals wieder. Einige rennen vor der Vergangenheit davon, andere versuchen sich mit ihr auseinanderzusetzen. Alle Wege werden gegangen, wirklich froh ist am Ende niemand. Und am Ende ist dieses Buch ein Abstieg und steter Fall zweier Familien, die sich entzweien und vielleicht nie wieder zusammenfinden. Terror löscht eben nicht nur das eine Leben aus, es zerstört die Leben dahinter und daneben genauso, nur in einer anderen Form.

Rezension erschienen am 26.09.2018 auf Amazon.

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