Lieber Herr Gysi, eine Biographie ist zu wenig...

Gregor Gysi gilt wohl den meisten Deutschen als die Lichtgestalt der linken Politik. Auf ihn können sich faktisch alle einigen, häufig erfolgt aber noch die Ergänzung, er sei in der falschen Partei, um ihn zu unterstützen. Dass eine so rhetorisch starke, charismatische Person ihre Autobiographie noch als aktiver Politiker veröffentlicht (seit kurzem ist Gregor Gysi Präsident der Linken im Europaparlament), ist eine Seltenheit. Dass diese dann auch noch so lesenswert und mehr als Selbstbeweihräucherung ist, dann eine angenehme Überraschung.


Aber zum Buch selbst zurück:
Bei seinen Wurzeln ansetzend, die er selbst gar nicht so recht kannte, bis eine Verwandte ihm ihre Nachforschungen zur Familie zukommen ließ, erzählt er über seine Jugend in der DDR als Sohn eines angesehenen Politikers der DDR, der es selbst bis ins Ministeramt schaffte, seine ersten Schritte als Anwalt und Politiker. Später werden die Ausführungen immer häufiger auf politische Chroniken und Einschätzungen dazu reduziert. Es folgen Erzählungen über Treffen mit Politikern anderer Länder oder gesellschaftlich relevanten Größen.



Die letzten hundert Seiten sind aus meiner Sicht der schwächste Part des Buches: nicht weil sie in irgendeiner Weise schlecht geschrieben wären, sondern weil die Dichte der ersten Abschnitte nicht gehalten werden kann. Das mag vor allem daran liegen, dass man über Weggefährten, die noch leben und weiter am politischen Leben teilhaben, nicht so schreiben kann, wie man es über alte Schulfreunde usw. konnte. Das soll allerdings meine euphorische Bewertung des Buches nicht schmälern.



Gregor Gysis Blick auf die DDR ist der stärkste Teil des Buches. Warum?
Zum einen sind seine Einsichten und Bewertungen des ehemaligen ostdeutschen Landes ausgewogen. Kritik ist erwünscht, aber Kritik um der Kritik willen und nur um eine ehemaligen sozialistischen Staat zu diskreditieren. Und zum anderen ermöglichen sie geschichtsinteressierten einen kritischen Blick auf eine Historie der DDR abseits der bekannten Einzelfälle. Hierbei sei allerdings erwähnt, dass auch ein kritischer Blick auf Gysi als Erzähler notwendig ist, um ihn bei aller Sympathie nicht als letzten Wahrheitsträge aufzunehmen. Gerade wenn es um die Entscheidungen der vergangenen Jahre der Linken, die PDS und/oder die letzten Tage der SED geht, in der Gysi eine bedeutsame Rolle spielte, ist er als Akteur womöglich nicht ganz unbefangen.



Zum anderen sind seine Anekdoten unendlich aufschlussreich und humorvoll. So liest sich diese Biographie locker und leicht, ohne dabei anbiedernd zu sein. Seine Schlüsse, die er aus seinem Leben und seinen Entscheidungen zieht, sind häufig selbstironisch, aber doch immer diskutabel im positivsten Sinne, wenn nicht gar lehrreich.



Schlussendlich möchte ich noch auf die Umsetzung des Hörbuches zu sprechen kommen, das ich auszugsweise hörte, wenn ich gerade nicht lesen konnte, weil ich im Auto oder der Straßenbahn saß: Eine andere Person als er selbst hätte dieses Buch nicht für ein Hörbuch inszenieren können. Er liest wahrlich, als erzählte er einem die Geschichte, weil man sich mit ihm gerade unterhält. Und - verdammt - man hört ihm einfach gern zu.



Aus diesem Grund:



Lieber Herr Gysi,



noch sind sie im politischen Geschäft aktiv. Wenn Sie eines Tages mit 80 oder 90 in Rente gehen, schreiben Sie bitte, ihre letzten Gedanken zu den vergangenen Entwicklungen auf. Passend zu dem Titel ihrer ersten Biographie befinde ich "Eine Biographie ist zu wenig"!

Rezension erschienen auf amazon.de am 07.03.2018.

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